TREND #PROGRESSIVEPROVINZEN: AUS LAND- WIRD STADTFLUCHT

Wer sich in den letzten Jahren auf die Suche nach einer Wohnung in Großstädten wie München, Hamburg oder Frankfurt begeben hat, weiß: Bezahlbarer Wohnraum ist echte Mangelware. Nicht selten entscheiden wir uns nach einem nervenaufreibenden Besichtigungsmarathon für ein Objekt, das doch nicht genau unseren Vorstellungen entspricht. Mal liegt die neue Wohnung an einer viel befahrenen Straße oder wir verzichten auf den Balkon, der zu Anfang noch ganz oben auf der Wunschliste stand.

Doch gerade dieses Jahr hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns in unserem Zuhause wohlfühlen und diesen Ort genau nach unseren Vorstellungen gestalten. Denn plötzlich wurde das öffentliche Leben heruntergefahren – und wir haben in diesem verrückten Jahr wahrscheinlich so viel Zeit zu Hause verbracht wie noch nie. Unsere vier Wände sind nun nicht mehr nur ein Rückzugsort: Wir haben von hier gearbeitet, gelernt oder sogar nebenbei die Kinder betreut. In einer Stadtwohnung ohne Balkon, Garten oder einen Park in der Nähe wird es da schnell mal eng. Für viele war dies die Bestätigung, dass spätestens jetzt die perfekte Zeit ist, um dem Großstadtdschungel endgültig den Rücken zu kehren.

Laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung befinden wir uns momentan in einer Phase der „Suburbanisierung“ und die Großstädte verzeichnen sogenannte „Binnenwanderungsverluste“. Das bedeutet, dass Menschen aus den Städten weg und ins Umland ziehen – und es ist davon auszugehen, dass dieser Trend zunimmt. Gerade in turbulenten Zeiten von Pandemie und Klimawandel verstärkt sich unser Bedürfnis nach einem sicheren Ort, der uns Schutz bietet. Diesen Ort finden wir beispielsweise eher in einem Haus auf dem Land als in einer kleinen Großstadtwohnung – und ein Haus in der Stadt können sich nun mal die wenigsten leisten.

Gehört das Vorurteil, dass auf dem Land nichts los sei und man sich dort beruflich nicht entfalten könne, also der Vergangenheit an? Schließlich zieht es gerade Kreative, Designer:innen, ITler:innen oder Architekt:innen in die Provinz. Jedoch hat die Pandemie eben auch gezeigt, dass es in Sachen Digitalisierung und flexible Arbeitsverhältnisse noch enormen Nachholbedarf gibt. Welche Chancen das Landleben im 21. Jahrhundert bietet und wie Dörfer ihr Potenzial ausschöpfen können, zeigte uns Silvia Hennig, Gründerin des Think & Do Tanks neuland 21, im Rahmen unserer digitalen Trendvernissage 2020.

Entstanden ist der gemeinnützige Verein aus einer persönlichen Motivation heraus – denn in ihrer Heimat in Brandenburg beobachtete sie ein noch immer weit verbreitetes Phänomen: Kneipen machten dicht, ihre frühere Schule schloss und Dorfläden verschwanden. Auch als sie zwischenzeitlich im Ausland studierte und arbeitete, fühlte sie sich immer mit ihrem Heimatdorf verbunden. Da sie schon viel im Bereich der Innovations- und Digitalpolitik gearbeitet hatte, wollte sie die zahlreichen Innovationen auch in ländliche Regionen bringen, denn diese seien oftmals nur für die Großstadt gedacht. Genau das hat sich der Verein heute zur Aufgabe gemacht: Mithilfe von digitalen und sozialen Innovationen soll die Lebensqualität auf dem Land verbessert werden – aus der Provinz wird eine Progressive Provinz.

Dinge wie Nahversorgung, Mobilität und Verwaltung müssen digitaler werden – die sogenannten „Smart Cities“ dienen hier als Vorbild. Beispielsweise wolle man, so Silvia Hennig, Angebote wie „Ridesharing“, die es in der Stadt bereits in einer Vielzahl gibt, auch auf dem Land etablieren – denn dort haben die Menschen entweder die Wahl „zwischen einem oder keinem Bus“. Und allen, die auf dem Dorf aufgewachsen sind, dürften solche Situationen bekannt vorkommen. Laut Silvia Hennig gibt es mittlerweile viele Initiativen, die Menschen ermutigen wollen, zurück aufs Land zu ziehen oder solche, die eine Art „Landleben auf Probe“ anbieten. Sprechen wir hier also von einem neuen Trend? „Es gibt definitiv einen verstärkten Trend aufs Land. Es gibt viel mehr Anfragen bei Immobilien-Portalen. Wir haben mehr Anfragen, die Wohnprojekte, die wir kennen, haben mehr Anfragen und in der Regel sind das doppelt oder dreimal so viele wie vor der Krise (…), weil Corona die Limitation und die Einschränkungen von Städten deutlich werden lässt.“

Es deutet also alles darauf hin, dass uns die progressiven Provinzen noch lange begleiten werden – und spätestens nach diesem Jahr wissen wir: Alles ist möglich. Auch, dass die größten Stadtliebhaber:innen unter uns das Szeneviertel gegen ein Leben mit Haus und Hühnerstall eintauschen könnten. Falls ihr mehr über das Thema erfahren wollt, schaut euch gerne das Interview mit Silvia Hennig an, das wir im Rahmen unserer digitalen Trendvernissage geführt haben.

Text: Rebekka Miller