09 Okt TREND #SMARTDUST: Computer in Staubkorngröße
Ob Waldbrand, Klimawandel oder Pandemie – das Jahr 2020 wirft viele Fragen auf, wenn es um Themen wie Risikoprävention und Katastrophenschutz geht. Hätten wir das alles früher merken müssen? Und müssten wir dazu vielleicht einfach mal genauer hinsehen?
Es ist bereits über 40 Jahre her, dass John Paul Young mit seinem Hit Love Is in the Air die Charts eroberte. In seinem Evergreen besingt er eine unsichtbare Macht, die sich überall verbirgt – vom Ozean bis in die Baumkronen. Wie der Titel verrät, geht es um Liebe. Aber stellen wir uns mal vor, wir wüssten das nicht. Würde der Text ohne diese Information nicht doch etwas unheimlich anmuten – so ein unsichtbares Etwas, das uns auf Schritt und Tritt verfolgt?
Das klingt doch verdächtig nach Smart Dust – das ist der umgangssprachliche Begriff für sogenannte mikroelektromechanische Systeme (kurz: MEMs), also Computer in der Größe eines Staubkorns. Die Teilchen sind nur wenige Mikro- bis Millimeter groß, verfügen über Sensoren und Prozessoren und können miteinander vernetzt werden. Was nach finsterer Dystopie klingt, ist vielleicht gar nicht so abwegig, wie es scheint. Besonders in einem Jahr, in dem wir sowohl von verheerenden Waldbränden als auch von einer globalen Pandemie heimgesucht wurden, sollte uns eigentlich nichts mehr überraschen.
So futuristisch das Konzept auch klingen mag, ganz neu ist die Technologie nicht. Bereits im Jahr 1992 wurde das Konzept bei einem Workshop der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) in den USA entwickelt. Und im Jahr 1997 begann Kristofer Pister, Professor an der University of California, Berkeley, mit seiner Forschungsarbeit zur Entwicklung kleinster Computer. Das Ziel: einen Computer im Kubikmillimeter-Format entwickeln.
Vom Acker bis auf den Berggipfel
Die mikroskopisch kleinen Maschinen sollen große Wirkungen erzielen. Denn auch wenn die einzelnen Teilchen nur schwer mit bloßem Auge zu erkennen sind, hat es die Masse in sich. In der Natur könnten größere Katastrophen verhindert werden: Kleinste Temperatur- und Bewegungssensoren könnten breitflächig über Wälder, Felder und Berghänge gestreut werden und somit frühzeitig vor Bränden oder Lawinen warnen.
In der Medizin könnten die Computer in kleinste Öffnungen gelangen oder von Patienten geschluckt werden und somit eine schnelle und präzise Alternative zu invasiven Maßnahmen und Operationen bieten. Statt Sonde oder Nadel könnten die winzigen Teilchen zum Einsatz kommen und beispielsweise den Blutzucker messen. Als sogenannter Neural Dust könnten die elektronischen Helfer sogar mittels Brain-Computer-Interface genutzt werden, um Prothesen zu steuern oder zur Bekämpfung von Nervenkrankheiten eingesetzt werden.
Und wem das noch nicht genug Science-Fiction ist: Geforscht wird auch an sogenannten synthetischen Insekten (womit wir nun endgültig in das Black Mirror Territorium vorgedrungen wären). Laut Website der University of California, Berkeley handelt es sich im Prinzip um „Smart Dust mit Beinen“ – oder eben Flügeln. Der schlaue Staub wäre somit also nicht zum ziellosen Herumwehen verdammt, sondern könnte ganz gezielt gesteuert werden, laufen, fliegen oder schwimmen. Die umherschwirrenden Teilchen könnten beispielsweise gezielt in Menschenmassen eingesetzt werden, um Temperaturschwankungen zu registrieren und somit frühzeitig auf Krankheitsfälle hinzuweisen.
Smart Dust is watching you
Alles in allem klingt es so, als seien die Mikromaschinen wahre Alleskönner. Von der Blutzuckeranalyse über Prothesensteuerung bis hin zur Erdrutsch-Prävention könnten die mikroskopischen Multitalente unser Leben von Grund auf verändern – und zweifelsohne bereichern. Doch bei all den Vorzügen dieser futuristischen Technologie ergeben sich auch Fragen nach Datenschutz, Privatsphäre und Ethik. Denn wenn die kleinen Teilchen wirklich mal zur Aufzeichnung unserer Vitalparameter eingesetzt werden, habe ich dann das Recht darauf, dem zu widersprechen? Werde ich am Ende sogar unwissentlich gefilmt und muss meine Privatsphäre zum Wohl der Allgemeinheit opfern?
Es gibt sicherlich viele berechtigte Fragen, die es zu prüfen gilt. Trotz aller Bedenken sollten wir bloß eines nicht vergessen: Technophobie ist durchaus kein neues Phänomen – so löste bereits die Erfindung von Zügen und Fernsehern seinerzeit kollektive Angst und Misstrauen aus. Und doch sind auch sie feste Bestandteile unseres Lebens geworden. Noch sind wir nicht am Punkt angekommen, an dem wir von Smart Dust umgeben sind. Bis dahin begnügen wir uns also mit Hirngespinsten und der Frage: großer Fortschritt oder schöne neue Welt?
Text: Melissa Walker