TREND #TLDR: Lange Rede, gekürzter Sinn

Tagtäglich prasselt eine wahre Flut an Informationen auf uns ein. Um damit fertig zu werden, müssen wir selektieren – und lernen, damit umzugehen.

 Wer sich in Foren wie reddit herumtreibt, dem wird diese Abkürzung vermutlich längst ein Begriff sein: tl;dr: too long, didn’t read – zu lang, nicht gelesen. Hinter dem Akronym verbirgt sich, kurz gesagt, der Wunsch nach mehr Effizienz. Als Antwort auf ausschweifende Texte in Online-Foren weisen die vier Buchstaben auf die unzumutbare Länge eines Beitrags hin. Doch nicht immer handelt es sich um eine Maßregelung. Auch von Verfasser:innen selbst wird das Kürzel verwendet, um Inhalte für Lesefaule auf den Punkt zu bringen. Fast wirkt es wie ein Schuldeingeständnis. In jedem Fall signalisiert die Abkürzung jedoch eines: Es geht auch kürzer. Denn wer hat heutzutage schon Zeit dafür, sich alles durchzulesen?

Generation Goldfisch

Tatsächlich belegen Studien längst, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit dahinschmilzt. Das fanden Forscher:innen heraus, indem sie unter anderem dokumentierten, wie lange sich Hashtags in der Top-50-Liste bei Twitter halten. Waren es 2013 noch durchschnittlich 17,5 Stunden pro Hashtag, schrumpfte die Zahl drei Jahre später auf nur 11,9 Stunden. Themen werden heiß diskutiert, um schnell wieder fallen gelassen zu werden.

Doch nicht nur auf der kollektiven, auch auf der individuellen Ebene verkleinert sich unsere Aufmerksamkeitsspanne. Bereits 2015 erreichten wir den Punkt, der namensgebend für eine ganze Generation war: In Sachen Aufmerksamkeit mussten wir uns dem Goldfisch geschlagen geben, der mit neun Sekunden Aufmerksamkeit immerhin eine Sekunde länger fokussiert bleibt als wir. Wie viele von uns mussten sich schon schmerzlich eingestehen, dass dicke Romane uns nicht mehr so fesseln, wie sie es noch vor ein paar Jahren taten. Selbst leidenschaftlichen Leser:innen fällt das Eintauchen in die gedruckten Welten teilweise beschämend schwer. Anders als beim Smartphone, das mit Push-Nachrichten und Kurzmeldungen lockt.

Doch wen wundert das? Im Alltag verschaffen wir uns routiniert bereits morgens mit Briefings, Tickern oder Tweets einen ersten Überblick über das aktuelle Zeitgeschehen. Worum es auch geht, soziale Medien liefern uns Informationen in kleinen, leicht verdaulichen Häppchen – und diese nehmen wir dankend an. Denn wir stehen konstant unter Zeitdruck. Um über Aktuelles auf dem Laufenden zu bleiben, müssen wir uns keine langen Artikel mehr durchlesen. Es geht schließlich auch in 280 Zeichen. Knackige Snippets und Stichpunkte liefern uns mittlerweile alle Informationen, die wir brauchen – oder zumindest jene, die wir zu brauchen glauben. 

Bullet Points statt Wall of Text 

Das Phänomen der schwindenden Aufmerksamkeit ist kein neues und wird uns noch länger begleiten. Ausschlaggebend für die Aufnahme in die diesjährigen Trends war jedoch eine Ankündigung aus dem Dezember 2020. Damals wurde bekannt, dass Facebook an einem neuen Tool arbeite: Nachrichtenartikel sollen von einer künstlichen Intelligenz zusammengefasst und in Kurzform wiedergegeben werden können – der Name: TLDR. Praktisch, wenn man bedenkt, welche Möglichkeiten sich hier für Barrierefreiheit und den Zugang zu Informationen auftun. Doch es gibt auch kritische Stimmen.

Denn der Umgang mit Medien ist immer auch ein reflexiver Prozess. Wir werden mit einer Fülle an Informationen konfrontiert, mit der wir umgehen müssen. Diese Last stemmen wir nur durch das gewissenhafte Selektieren und Interpretieren von Inhalten. Zwar bieten uns Kurzmeldungen hier eine wertvolle Stütze, dem Inhalt eines Textes werden wir aber wohl selten in unter 280 Zeichen gerecht. Schließlich zehren Fake News und Desinformation nicht nur von verdrehten Fakten, sondern werden auch durch das Fehlen von Informationen geschürt. Bereits heute existieren Tools, die diese Selektion für uns übernehmen – darunter das Tool „TLDR This“, das verspricht, die Quintessenz von Texten aller Art kurz und prägnant wiedergeben zu können. Die kostenpflichtige Version verspricht sogar eine „menschliche“ Zusammenfassung dank KI. Angepriesen wird das Produkt mit dem Claim Focus on the value, not the noise. Bleibt also die Frage, wem wir diese Unterscheidung überlassen.

tl;dr: So fasst übrigens die KI von TLDR This diesen Blogpost zusammen:

#TLDR: Lange Rede, gekürzter Sinn: “Too long, didn’t read: Zu lang, nicht gelesen” In Sachen Aufmerksamkeit mussten wir uns dem Goldfisch geschlagen geben, der mit neun Sekunde länger fokussiert bleibt als wir. Themen werden heiß diskutiert, um schnell wieder fallen gelassen zerden [sic].

Text:
Melissa Walker

Fotos:
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