I am Man: der Wunsch nach Veränderung

Im Rahmen unserer Recherchen für die Trends 2023 kamen wir an einem Thema nicht vorbei: Männlichkeit. Auch für mich persönlich, als junger Mensch und weibliche Person, ist diese aktuelle Entwicklung spannend. Was mir immer wieder auffällt: Es gibt viele Diskussionen rund um das Thema, sowohl auf Social Media als auch in gesellschaftspolitischen Diskursen. Es scheint, als wandle sich das „traditionelle Männerbild“ zu etwas Neuem. Oder doch nicht? Toxische Männlichkeit ist inzwischen ein geläufiger Begriff, männliche Privilegien sind ebenso weit verbreitet wie maskuline Stereotype, mit denen schon Generationen vor uns aufgewachsen sind. Es ist richtig und vor allem wichtig, über diese Dinge zu sprechen und die Strukturen dahinter zu hinterfragen. Denn bei der Diskussion wird manchmal vergessen, dass das traditionelle Verständnis von Männlichkeit auch für die männlich gelesenen Personen selbst toxisch sein kann.

 

Ein anerzogenes Männlichkeitsideal

Zahlreiche Cis-Männer sind in einer Welt aufgewachsen, in der ihre Rolle von Anfang an klar definiert war. Als „das starke Geschlecht“ sind sie die Macher und Entscheider, sie sollen Leistung zeigen und Führungsstärke beweisen. Es geht mehr ums Haben als ums Sein, Gefühle haben da ebenfalls keinen Platz – vor allem die negativen. Irreführende Sprüche wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ vermitteln Jungen schon im Kindesalter, dass sie Schmerz unterdrücken sollten. So lernen sie, das eigene Leid zu bagatellisieren, die erlebten Gefühle nicht ernst zu nehmen.

Aber warum wird so sehr an vermeintlich männlichen Eigenschaften wie Stärke, Dominanz und Unabhängigkeit festgehalten? Vor allem, wenn es bedeutet, dass männlich gelesene Personen darunter leiden. Herbert Grönemeyer stellte die Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?“ bereits 1984. Die Antwort darauf ist komplex: Denn Männlichkeit ist theoretisch gesehen ein sozial konstruiertes Konzept, das je nach kulturellem, historischem und geografischem Kontext unterschiedlich definiert wird.

Zwei Gegensätze des modernen Mannes

Aktuell zeichnen sich in der Gesellschaft zwei Tendenzen ab, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite steht ein recht offener Ansatz, der beispielsweise Emotionen als natürlichen Teil des Menschseins akzeptiert. Diejenigen, die sich mit diesem Männerbild identifizieren, reflektieren stereotype Verhaltensmuster und setzen sich dafür ein, alte Normen aufzubrechen. Auch die Geschlechtergrenzen weichen auf, die Transformation geschieht sowohl im Privaten als auch im öffentlichen Raum. So sehen wir immer mehr Männer mit lackierten Fingernägeln, Perlenkette oder verspielten Blumenmustern auf dem Buzzcut. Männliche Vorbilder à la Harry Styles mit Ringen, Ketten, bunten Cardigans und Glitzeroutfits gewinnen an gesellschaftlicher Relevanz und Akzeptanz. Auch Emotionen und psychische Gesundheit werden endlich thematisiert.

Dem gegenüber steht der „Alpha-Mann“, der sich stark am klassischen Rollenbild orientiert. Ein bekanntes Beispiel ist Influencer Andrew Tate. In seinen Videos stärkt er das Bild des Mannes als das des Ernährers, Beschützers, Anführers, des Aggressors – toxische Männlichkeit, wie sie im Buche steht. Seine offen zur Schau gestellte Misogynie nährt ein Männerbild, das in vielerlei Hinsicht gefährlich ist. Denn öffentliche Personen wie Andrew Tate radikalisieren Jungs und Männer, indem sie menschen- und speziell frauenverachtendes Verhalten salonfähig machen.

 

Wir brauchen eine Veränderung

Für mich ist klar: Wir können und müssen die männliche Rolle in der Gesellschaft umgestalten. Denn toxisch männliches Verhalten führt dazu, dass viele Männer sich nicht trauen, ein freies Leben zu führen und so zu sein, wie sie sind und sich fühlen. Als junge Menschen können wir etwas dazu beitragen – indem wir darüber und miteinander reden. So spreche ich zum Beispiel auch mit meinem Vater über seine Gefühle oder frage ihn, wann er das letzte Mal geweint hat. Durch solche Fragen bin ich manchmal vielleicht eine recht unangenehme Tochter, auch wenn diese Gespräche in lauwarmen Sommernächten bei einem Glas Wein stattfinden. Mit jeder Unterhaltung wird mir wieder bewusst, dass sich nicht alle Personen in unserer Gesellschaft okay damit fühlen, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Mein Vater hat es schlicht anders gelernt, ebenso wie viele meiner männlichen Freunde.

Die Männer in meinem Leben – vor allem die jüngeren – sehnen sich nach einer Veränderung. Die gute Nachricht ist, dass Männlichkeit nicht festgeschrieben ist – sie kann also neu definiert werden. Das erfordert einige Anstrengung, keine Frage. Doch es ist notwendig, für unsere Gesellschaft und uns alle. Herbert Grönemeyers Frage muss dabei nicht beantwortet werden, denn auch das Spektrum von Männlichkeit ist weit. Man(n) kann sich die Nägel lackieren, muss aber nicht. Man(n) kann das Fitnessstudio lieben, muss aber nicht. Die wichtigste Veränderung in meinen Augen ist das Ende der Alpha-Male-Bewegung und die Akzeptanz von Männern, die Emotionen zeigen: Männer weinen, Männer fühlen sich ratlos und Männer haben Angst. Denn Gefühle sind nicht männlich oder weiblich, sondern vor allem menschlich – und Menschen sind wir ja schließlich alle! Setzt sich diese Erkenntnis durch, hilft das Männern dabei, sich nicht mehr verstellen zu müssen, ihre Emotionen zuzulassen und vollständig sie selbst zu sein. Nicht zuletzt könnte so eine menschlichere Gesellschaft entstehen.

 

Zum Weiterlesen: „Toxische Männlichkeit erkennen: Was sie ausmacht und woher sie kommt“ von Kerstin Wenig

 

Text: Lea Heiser
Header: Adel & Link HIVE Studios

Bilder: Unsplash, Norbert Kowalczyk / Raghu Nayyar